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Überlagerungen: Zeichnungen ton und Motiv. Mit dem Pinsel verändert sich die Linienführung. Sanft kann dieser
in Bleistift und Aquarell über die Oberfläche gleiten: je weniger Druck, desto schmaler die Linie. Gegenüber
dem Bleistift kommt es zu weichen Übergängen und flächigeren Farbverläufen. Es
Zwischen zwei grauen Kartons, mit mehreren schwarzen Foldback-Klammern an entstehen homogene Flächen, die bei den Vektorgrafiken von 2018 durch gesetzte
Wolfgang Folmers Bildwelten der linken Kante zusammengehalten, reiht Wolfgang Folmer Zeichnungen in Blei- Umrisslinien und digitale Bearbeitung perfektioniert werden. Das Anknüpfen und
stift hintereinander. Das Format von 50 x 70 cm verdoppelt sich beim Aufschlagen Fortführen an Vorhandenes entspricht einem steten Aushandeln, Verschieben und
und Werkgruppen der Mappe auf eine Länge von 140 cm, wenngleich auch einzelne, herausgenomme- Hinterfragen von Bezugsrahmen. Niemals Stillstand – und doch regen die Werke
ne Seiten für sich selbst stehen können (Abb. S. X–X). Beim Blättern offenbart sich zum Innehalten an.
eine Mischung aus Zeichnungen von antiken Statuen und Flugzeugen, technischen
Zeichnungen der Moderne und Zeichnungen nach Holzschnitten der Dürerzeit, der
Vergangenheit und der Gegenwart. Entstanden sind die Blätter 1994 noch während Umbrüche, oder vom Chaos zum Freiraum:
seines Studiums an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. An Schwarz-Weiß-Fotografien und farbige Monotypien
einem Leuchttisch kopierte Folmer die in Büchern gefundenen Bildquellen auf Pa-
Anna pier. Er collagiert mit dem Bleistift. Die gewählten Motive, ihre Kombination und die Einen Einblick in Wolfgang Folmers Elternhaus zeigen analoge Schwarz-Weiß-
Katharina Wahl der Ausschnitte sind ebenso ein künstlerischer Prozess wie das Aneignen Fotografien, die um 1990 entstanden sind. Markant verweisen die Kruzifixe an den
Thaler verschiedener künstlerischer Techniken. Das Studieren und Nachvollziehen des Wänden auf einen katholisch geprägten Haushalt. Das Bettlaken ist fein säuber-
Zeichnens ist nicht nur auf die geistige Auseinandersetzung begrenzt. Angelehnt lich glattgezogen, Papiere stapeln sich auf einem Schreibtisch, das Moped wirkt
an die historische Ausbildung an Kunstakademien in Europa ging Wolfgang Folmer befremdlich im Flur abgestellt, die Zimmerpflanzen wachsen in die Räume hin-
damals dem Kopieren altmeisterlicher Zeichnungen nach, das ihm ein Nachemp- ein (Abb. S. X–X). Als Betrachtende werden wir direkt und unverstellt mit einem
finden der Linien auf körperlicher Ebene ermöglichte und so neben dem Geistigen persönlichen Umfeld konfrontiert. Zugleich hat Folmer in seinen gewählten Bild-
zu einer ganzheitlichen Erfahrung wurde, auch um den eigenen künstlerischen ausschnitten vielfältige Texturen wie die strukturierte Tapete, die gestapelten Bau-
Strich zu finden. Diese Blätter deuten den künstlerischen Werdegang Folmers an: steine oder das Kachelmuster der Zimmerdecke festgehalten. Es entsteht eine
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Schon das variable Format und die Möglichkeit, eine in sich geschlossene Mappe respektvolle Distanz. Zur selben Zeit fotografierte er auch den Wohnraum seiner
zusammenzustellen, die jederzeit aufgelöst und neu geordnet werden kann, ver- Nachbarin, ‚Es Otto, Anna‘ . In diesen Fotografien zeigt sich die gleiche Fülle an
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vielfacht sich in seinen späteren Werken, besonders in den Serien. Innerbildliche Dingen und Gegenständen wie im Elternhaus. Beinahe ‚messiehaft‘ stapeln sich
Rahmungen, Überlagerungen, Schichtungen, Gegensätze oder die Aufforderung hier allerlei Werkzeug, Wannen, Behälter oder Dosen, bei der Nachbarin sind es
zum genauen Hinsehen sind hier umgesetzt. Während für diese Zeichnungen die Kuscheltiere, vor allem Teddybären, Püppchen, Dekofigürchen und Nippes. In fast
überlegt ausgewählten Vorlagen ähnlich einem Durchschlag kopiert wurden, lässt allen Schaffensphasen, Medien und Techniken Folmers taucht der Teddybär auf
sich Folmer seither von den unterschiedlichsten Motiven inspirieren und adaptiert und wirkt als eindringliches Motiv nach: mal klein, mal riesig, mal als vermeintli-
sie für seine Kompositionen. Der Leuchttisch wird in späteren Schaffensphasen mit cher Seelentröster, mal als niedlicher Begleiter, mal als übergroße Bedrohung, mal
Transparentpapier und schließlich der digitalen Bildverarbeitung ersetzt. als nützlicher Beschützer. 3
Austesten und Wechsel künstlerischer Techniken knüpfen an diese frühen Arbei- Wolfgang Folmer führt uns in den Schwarz-Weiß-Fotografien tatsächliche Lebens-
ten an. Folmer überlagert Versatzstücke aus Kunstgeschichte, Film-Stills und auf realitäten vor Augen, die zu Zeitdokumenten geworden sind. Die Fotografie in Fol-
dem Sperrmüll gefundenen Erotik-Magazinen in Aquarell (Abb. S. X–X). Anrüchi- mers Œuvre beschreibt Gunnar Schmidt als „Mediengeschichte en miniature“, bei
ge, sexuelle Darstellungen treffen auf den glorifizierenden Glanz Hollywoods und der Wechsel von der „[…] Schwarz-Weiß- zur Farbästhetik, vom Analogen zum Di-
kunsthistorische Bildwelten. Ein wiederkehrendes Motiv in den beiden Techniken gitalen, von der Dunkelkammer zum Computer“ stattfinden.
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Bleistift und Aquarell ist der gezeichnete Rahmen. Wir sehen immer wieder lee-
re und befüllte Rahmen, überwiegend prachtvolle Barockrahmen, die als Teil der Nach dem Tod seiner Eltern war das Zeichnen für den Künstler ein Mittel zur Trau-
Komposition eingefügt sind. erbewältigung. Mit Ölkreiden färbte er Papierflächen vielfarbig ein, legte langgezo-
gene Papierstreifen darüber und zeichnete die Umrisslinien verschiedener Gegen-
Um eine Wellung des Papiers bei den Aquarellen zu verhindern, grundierte Folmer stände, Pflanzen und Tiere. Der Druck des Stifts übertrug die Farbe der Ölkreiden
die gesamte Papierfläche in einem Grauton – diese Vorgehensweise wird der Künst- auf den Streifen, und durch den flächigen Farbauftrag änderte sich mitunter die
ler bei seinen Holzschnitten auf Sperrholzplatten materialbedingt adaptieren. Das Farbe der fortlaufend gezeichneten Linie. Die einzelnen Motive dieser Monotypien
flächige Grau führt darüber hinaus zu einem weniger harten Kontrast von Grund- wirken aufgereiht, fast schon sortiert und brauchen ihren Freiraum (Abb. S. X–X).
Atelier in der ABK Stuttgart,
16 Außenstelle Fellbach, 1994 17