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In seinen Pastellen schafft Wolfgang Folmer das, was ihn auch sonst umtreibt: Er Die Darstellungen formieren sich als Konglomerat diverser Realitätsebenen, die
generiert Fülle. Ist erst einmal der Anfang gemacht, gibt es kein Halten mehr. In sich kaum auseinanderdividieren lassen. Mysteriöse, bedrohliche Visionen und
rascher Sequenz folgt Bild auf Bild, wobei bestimmte Motive oder Ideen Impulse abstrakte Flächenmuster liefern Tannenbaum, Spielzeugfiguren, Fußball oder Re-
geben für die anschließende Produktion. Manchmal sind es lediglich Farbabriebe volver ein Pendant. Oft verzahnen sich realistische Motive mit linearen Schraffu-
Aus dem Vollen geschöpft: des Vorgängers, die das leere Blatt ‚impfen‘. Aus den eher zufälligen Markierungen ren, markanten Andreaskreuzen oder Farbbewegungen. In den Schneemann-Bil-
erwachsen dann wieder neue Erfindungen. Folmer arbeitet exzessiv, um, wie er dern beispielsweise verströmt ein rot-weißes Karodesign den zünftigen Charme
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Wolfgang Folmers Pastelle selbst sagt, seinen Verstand während des Tuns möglichst auszuschalten und ganz eines Geschirrtuchs, doch was hat das mit der Kinderglück verheißenden Figur aus
intuitiv, aus dem Gefühl heraus, das anschaulich wiederzugeben, was sich in ihm Wintertagen zu tun? Und ist diese Konnotation überhaupt gemeint? Manch eine der
aus spontanen Ideen, Eindrücken und Erinnerungen zusammenbraut.
figurativen Fusionen mutet paradox an, alle erscheinen eigenwillig oder gar skurril
und geben zu denken. Interferierende Bildfragmente verdichten sich optisch, wo-
Diese in allen Werkgruppen angewandte Vorgehensweise bezieht die Pastelle mit bei formale Ähnlichkeiten Ideenverknüpfungen erzeugen, die überraschen und den
ein. Anders als die permanent zum Einsatz kommende Zeichnung beschränkt sich Blick schärfen – ein Merkmal, das schon seit den frühen Zeichnungen die Gestalt
die Ausübung der Pastellmalerei bisher auf einen begrenzten Zeitraum: Zwischen sämtlicher Arbeiten des Künstlers charakterisiert.
Petra 1998 und 2003 entstehen in vier Schüben eine große Zahl an Artefakten in dieser
Wilhelmy Technik. Wie der rauschhafte Arbeitsrhythmus entsprechen auch die Themen dem Neben den technisch bedingten malerischen Effekten springen in den Pastellen
üblichen Kanon. Unorthodox, frei und kaum zu entschlüsseln finden Dinge zuein- zwei Sujets ins Auge: mit breiten Balken ausgeixte Gegenstände und eng aneinan-
ander, die nicht unbedingt zusammengehören. Die Mischung märchenhafter und der gefügte Bilderrahmen, wie man sie von musealen Depotwänden her kennt. Vor
unheilvoller Elemente, gespeist aus Wiederholungen, Abwandlungen, Echos und allem die in der Art eines Andreaskreuzes bezeichneten Figuren sind ungewöhn-
Überblendungen, bietet eine Quelle vieldeutiger und nicht wirklich greifbarer Aus- lich. Erst werden sie auf der Fläche platziert und dann wiederum mit Nachdruck aus
sagen. dem Kontext gelöscht. Handelt es sich um Korrekturen, unwillkürliche Meinungs-
wechsel oder Provokationen? Ein Krokodil hat vor einem Adventskranz nichts ver-
Was die Pastelle vom übrigen Schaffen inklusive anderer farbbasierter Gestal- loren, vor der Teigwalze schon, denn es greift deren Umrisse auf. Eine durchge-
tungsmethoden unterscheidet, ist die malerische Handhabung des Materials. strichene Kerze am Kranz könnte bedeuten, dass der erste Advent schon vorüber
Während in den Aquarellen und Acrylmalereien die mit dem Pinsel aufgetragene oder der dritte gerade angesagt ist. Vielleicht jedoch signalisieren die Kreuze nur
Linie das Sagen hat und in den in Mischtechnik auf Transparentpapier ausgeführten Störungen, vereiteln unsere Erwartungen und konventionellen Wertungen? Oder
Zeichnungen Farbe als unvermischtes, flächenfüllendes Medium auftritt, kombi- dokumentieren sie kompositorische Anliegen? Die ‚Rahmenbilder‘ an Stellagen
niert Folmer in seinen Pastellen lineare Setzungen mit sich wandelnden, luftigen etablieren andere, ebenso ausgefallene Perspektiven. Die Holzrahmen umranden
und partiell verschwommenen Farbarealen. Kohle oder Buntstift können die Krei- Bilder, die sich als freie Farbspiele entpuppen und sich an kein Reglement halten,
de als weitere Komponenten komplementieren. Schwarz dient der Verdunkelung sondern explizit die Halt stiftenden Leisten ignorieren. Wolkige Schwaden, oft von
sowie Verunklärung und etabliert einen Gegenpol zu den koloristisch frischen und Dunkelheit hinterlegt, entfalten sich über Grenzen hinweg. Natürliche oder land-
vitalen Passagen. Die Wahl der Farbwerte entspricht keineswegs der gängigen schaftliche Objekte sind selten identifizierbar – Wolkenhimmel etwa oder Was-
Vorstellung lichter Pastelltöne, wie wir sie z. B. mit den Tänzerinnen Degas‘ oder serspiegelungen –, stattdessen dominieren vage Impressionen atmosphärischer
den Porträts Renoirs assoziieren. Ein sattes, flächiges Mittelbraun unterwandert Phänomene. Keimen, wie in einem Exemplar, weibliche Brüste aus der Unschär-
die Leuchtkraft heller Färbungen, noch öfter verschattet Schwarz die Formen in fe empor, manifestiert sich darin eine bewusste oder aber absichtslose Nähe zu
verschiedensten Nuancen. So drängt sich eine abgründige, wenig vertrauensvolle den ironisch überspitzten Extravaganzen René Magrittes. Surreal und fantastisch
Wirkung zwischen die Dinge, umhüllt Tiere, Fabelwesen, Pinocchio und sexuelle muten auch die Bildräume an, an deren dicht bestückten Stellwänden sich einzel-
Fantasien. Die Bildwelt entzieht sich einem stringenten Zugriff. Anderen Werk- ne Fenster in unterschiedlichen Winkeln öffnen. Zudem kann ein verführerisches
komplexen analog ermöglicht die serielle Kontinuität Wiedererkennungsmomente Kolorit an Fußboden und Decke den Raum in nicht einsehbare Sphären erweitern.
und Modifikationserlebnisse. Schneemann, Adventskranz oder Nudelholz verän- Anziehungskraft und Misstrauen lösen sich ab.
dern ihr Gesicht. Inhaltlich vom Gesamten abgegrenzte Einzelfälle gibt es keine.
Strichweise“, Künstlertreff Reihe 22,
50 Stuttgart, 2000 51